Die Kostbarkeiten liegen auf Stapeln und hängen an der Wand: Ahmad Tamim Wahdat betreibt seit mehr als 30 Jahren einen Teppichhandel in der Hamburger Speicherstadt. 10.000 Exemplare warten auf Abnehmer in der ganzen Welt.
Ein eisiger Wind weht durch die Straßen der Speicherstadt. Der Himmel über Hamburg ist grau an diesem Vormittag. Weit und breit keine Wolkenlücke zu sehen. Eigentlich will jeder nur schnell weiter, die Kälte treibt die Menschen voran – bloß wieder irgendwohin ins Warme. Immer wieder führt der Weg über Brücken, sie geben den Blick frei auf die zahlreichen alten Backsteinhäuser, die dieses Viertel der Hansestadt zu einem ganz besonderen machen. Wer durch die Straße Am Sandtorkai spaziert, ahnt kaum, welche kostbaren Schätze sich hinter den vielen Türen und Toren verbergen.
Auf die Frage, ob er ein Lieblingsstück habe, zuckt Ahmad Tamim Wahdat nur mit den Schultern – zu groß ist die Auswahl an Teppichen in seinem Lager. Über 10.000 Exemplare stapeln sich hier in der riesigen Halle, die meisten liegen hüfthoch übereinander, manche hängen auch an den Wänden. „Und jeder Teppich ist anders, es gibt keine zwei gleichen“, sagt Wahdat. Seit mehr als 30 Jahren ist der gebürtige Afghane Teppichhändler in Hamburg, der Einmarsch der Russen hatte ihn 1980 in die Flucht getrieben. Die Elbmetropole ist längst zu seiner neuen Heimat geworden. Hier lernte er auch seine spätere Frau kennen, das Ehepaar hat heute zwei erwachsene Kinder.
„Wir haben uns gut eingelebt und fühlen uns hier sehr wohl“, sagt Wahdat. „Hamburg ist eine Multikulti-Stadt, Menschen aller Nationalitäten sind hier zuhause.“ Mit seinem Teppichhandel, den er gemeinsam mit seinem Bruder Ahmad Shah Wahdat betreibt, hat der 55-Jährige ein Stück Orient nach Norddeutschland geholt. Alte oder neue Teppiche, fein oder grob gewebte, Günstige oder sehr teure Unikate, mit schlichtem oder prachtvollem Muster – die Vielfalt der Exemplare lässt sich kaum erfassen. Neben ihrer Heimat Afghanistan beziehen die zwei Brüder ihre Ware aus Iran, Indien, Pakistan und Nepal. Sie sind überwiegend Großhändler und verkaufen die Teppiche, die sie selbst aus den Herkunftsländern holen, an Einzelhändler auf der ganzen Welt weiter. Besonders groß ist die Nachfrage derzeit in den skandinavischen Ländern, aber auch Privatleute zählen zu den Abnehmern der Wahdats. Ihr Geschäftsprinzip hat sich inzwischen zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt.
„Hamburg ist die Drehscheibe für zwei Drittel der weltweit gehandelten Teppiche und damit der wichtigste Umschlagplatz auf der Welt“, erklärt Tamim Wahdat, während er langsam durch die Lagerhalle mit den kostbaren Waren geht. Auf 40 bis 50 schätzt er die Zahl der Teppichhändler allein in der Speicherstadt, die meisten kommen aus dem Orient. Anfang der 1980er Jahre seien es noch viel mehr gewesen, so Wahdat. „Früher war der ganze Sandtorkai voll von Teppichhändlern“, sagt der Geschäftsmann. Konkurrenzdenken untereinander gebe es nicht. „Wir sehen uns als Kollegen.“
Dann bleibt er vor einem Stapel stehen und streicht mit der Hand über den obersten Teppich. Ganz samtig und weich fühlt er sich an, der Wert der Ware ist in den Fingerspitzen spürbar. „Das ist ein ganz feiner Seidenteppich aus dem Iran“, sagt Wahdat, „mit etwa einer Million Knoten“. Qualität hat ihren Preis – solch ein Exemplar ist schon mal bis zu 50.000 Euro wert.
Sein Fachwissen hat sich der Geschäftsmann hauptsächlich mit Hilfe anderer Kollegen angeeignet, eine Ausbildung hat Wahdat nicht. In Afghanistan hat er noch seinen Schulabschluss gemacht, der Einfall der Russen verhinderte einen weiteren beruflichen Werdegang. Nach seiner Flucht nach Hamburg, wo sein fünf Jahre älterer Bruder bereits lebte, studierte er zunächst ein Semester Maschinenbau. Doch schnell merkte er: Praktisches Arbeiten liegt ihm mehr. Wahdat fing als einfacher Lagerarbeiter im Teppichhandel an. Bevor sie gemeinsam vor 15 Jahren ihr Lager am Sandtorkai, zu dem auch eine Werkstatt gehört, eröffneten, hatten sich die zwei Brüder bereits an anderer Stelle in der Speicherstadt selbstständig gemacht. „Wir haben ganz klein angefangen“, sagt Wahdat. Mit der Zeit haben sie ein richtiges Netzwerk aufgebaut, mit Kontakten auf der ganzen Welt. Besonders reizvoll: „Drei bis vier Mal im Jahr gehen wir auf Reise, um aus fernen Ländern neue Teppiche mitzubringen.“ Per Schiff und Lkw kommen die Waren schließlich in Hamburg an. Erst vor kurzem sind die beiden Unternehmer zurückgekommen aus dem Orient – die neuen Teppiche liegen noch in Jutesäcke verpackt auf dem Boden in der Lagerhalle. Sie warten auf neue Abnehmer irgendwo auf der Welt.
Tamim Wahdat hat seinen Lieblingsort derweil gefunden. In Hamburg hält sich der 55-Jährige besonders gern an der Alster auf. Mit seiner Kindheit in Afghanistan verbindet er aber ebenfalls positive Erinnerungen: „Es war alles so friedlich“, sagt er. In seiner Stimme schwingt ein wenig Wehmut mit. „Ganz anders als heute“, fügt er hinzu und blickt nachdenklich auf ein Foto an der Wand: Es zeigt eine große Parkanlage. Kinder spielen, die Sonne scheint. Seine Gedanken kreisen in diesem Moment um die fernen Verwandten, die noch in Afghanistan leben. Und an seine Flucht. „Wir durften damals noch ganz ohne Visum nach Deutschland einreisen“, erinnert sich Wahdat. „Heute ist so viel zerstört, die Menschen leben in Angst.“ Fremdgefühle hat er inzwischen schon lange nicht mehr, seine Freunde in Hamburg sind mehrheitlich Deutsche. Und auch beruflich fühlt sich der Geschäftsmann gut integriert. Das Brüderpaar nahm kürzlich teil an einer Ausstellung, die im Hamburger Rathaus zu sehen war. Präsentiert wurden die Erfolgsgeschichten von 31 Unternehmern mit Migrationshintergrund. „Ein schönes Gefühl dazuzugehören“, sagt Tamim Wahdat.
Mit dem Teppichhandel hat er sich dennoch ein Stück Afghanistan bewahrt. Ob er nicht doch einen Lieblingsteppich habe, fragt der Reporter erneut. „Ach, man muss sich immer neu verlieben“, meint er. „Das gilt aber nur für Teppiche“, fügt er schmunzelnd hinzu, während er über einen der vielen Stapel streicht. Nicht nur in seine Frau, sondern auch in Hamburg hat er sich schließlich schon vor über 30 Jahren verliebt. Und diese Liebe hält bis heute an.
Text: Carsten Richter
Fotos: Vienna Gerstenkorn